Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Beraubung der "Ägypter"

Josy Doyon berichtet in ihrem 1966 erstmals erschienenen Buch "Hirten ohne Erbarmen" auch über eine merkwürdige Begegnung. Sie schildert darin auch die Begegnung mit einer deutschen Zeugin Jehovas, die wie auch etliche andere ihrer Glaubensschwestern in Hitlers KZ einsitzen musste. Sie schildert in ihrer plastischen Art, wie sie als Schweizer Bürger vor Staunen "den Mund nicht mehr zubekam" und die Meinung äußerte, solche Prüfungssituationen wohl kaum überstanden zu haben. Jene KZ-Zeugin Jehovas konnte dieses Statement von Frau Doyon eigentlich nur als eine Art von Lob bewerten. Doch jetzt trat das ein, was eigentlich keiner so recht erwartet hatte. Jene KZ-Zeugin Jehovas ging einmal aus sich heraus und legte auch die "andere Seite" der "Medaille" einmal dar.

Der diesbezügliche Bericht (S. 232-235) besagt:

"'Siehst du, nicht die Verfolgung durch die Nazis war für uns das Schlimmste, sondern die Uneinigkeit zwischen uns Zeugen selbst. Viele Zeugen haben sich gegenseitig ausgeliefert und verraten. Kannst du dir das vorstellen: Man steht vor der SS und wird ausgefragt bis zur Bewusstlosigkeit, man wird geschlagen und verrät kein Wort von dem, was sie wissen wollen, aber plötzlich öffnet sich die Tür und ein Bruder aus der eigenen Versammlung kommt herein und verrät, was man mit allerWiderstandskraft verschwiegen oder abgeleugnet hat.' 'Aber so etwas ist doch nicht möglich?' fragte ich entsetzt. … 'Wir wurden von der Gesellschaft angewiesen, nichts, was die Versammlungen betrifft, zu verraten. Im Falle der Inhaftierung sollten wir keine Namen von Brüdern, keine Adressen und keine heimlichen Versammlungszentren verraten. Wir hätten einfach von nichts zu wissen. Und dann, wenn man glaubte, man habe die Gestapo an der Nase herumgeführt, und die Geschwister gedeckt, wurde plötzlich so ein Bruder hereingeführt und verriet lächelnd alles, was man mit zusammengebissenen Zähnen verschwiegen hatte. Oft handelte es sich um Brüder, die zuerst führend vorangegangen waren, das war noch das Schlimmste.

Aber noch ärger als dies alles war das Verhältnis unter uns Zeuginnen. Das kannst du dir nicht vorstellen. Die meisten der Schwestern wussten überhaupt nicht, wofür sie im Konzentrationslager ausharrten. Welch hässliche Streitereien gab es da von morgens bis abends! Die eine behauptete dies, die andere das und jede wollte recht haben. … Aber meine Nerven waren so mitgenommen, dass ich dies alles nicht mehr aushielt. Da griff ich zur List des Königs David, der sich vor den Toren des Königs Achis wahnsinnig stellte. Wenn man mich rief, begann ich blöde zu lachen und grinste die SS-Männer dumm an. Schließlich ließen sie mich in Ruhe."

Frau Doyon schildert noch eine andere Episode von dieser KZ-Zeugin Jehovas:

"Eines Tages kam sie zu mir, strahlte über das ganze Gesicht und sagte unter listigem Augenzwinkern: 'Jetzt habe ich gerade der alten Welt ein Schnippchen schlagen können. Ich hatte auf der Post für einen Auslandsbrief eine Gebühr von 50 Rappen bezahlen sollen. Ich tat, als hätte ich kein Portemonnaie bei mir und sagte, ich wollte mir das Geld draußen bei meinem Mann holen. Dann nahm ich den Auslandsbrief, ging seelenruhig hinaus und verschwand. Das habe ich gut gemacht, nicht wahr?'

'Aber um Himmels willen', brachte ich schließlich hervor, 'sag, dass du scherzest, das wäre doch Betrug!' 'Aber freilich hab ich es getan', lachte sie ungerührt, 'und dem sag ich nicht Betrug. Hast du denn nicht gelesen, dass die Israeliten beim Auszug aus Ägypten von Jehova den Befehl bekamen, die Ägypter zu berauben? Du weißt doch, dass wir Zeugen uns heute auf dem gegenbildlichen Auszug aus Ägypten befinden, denn das damalige Ägypten war nur ein Schattenbild unserer heutigen, dem Untergang geweihten, alten Welt! Und deshalb sollen wir der alten Welt nichts schenken. Die ganze Erde wird ja bald uns gehören!'

Ich hatte eine heftige Zurechtweisung auf der Zunge. Doch dann kam mir in den Sinn, dass sich ein Bruder ganz ähnlich geäußert hatte, als ich klagte, es sei für mich demütigend, von meiner Adoptivmutter so viel Güte annehmen zu müssen. 'Das ist aber dumm von dir', erwiderte der Bruder, 'statt dass du dich freuen würdest, dass das Geld deiner Mutter dir zugute kommst, statt der heuchlerischen Kirche. Nimm du nur ruhig, was du kannst, dann kommt es wenigstens dem Werk zugute. Die alte Welt geht sowieso bald zugrunde, die soll ruhig noch zahlen.'"

In dem eben zitierten Text ist auch von der "Beraubung der Ägypter" die Rede. Wie auch in etlichen Sachen, ist die Ursache dieser These im "Wachtturm" nachweisbar. Letzterer schrieb in seiner Ausgabe vom 15. 3. 1934 (S. 91):

'Jehova hatte Mose zuvor gesagt: 'Wenn ihr auszieht, sollt ihr nicht leer ausziehen', sondern, dass die Israeliten, sobald Gottes rechte Zeit zu ihrer Befreiung gekommen sein würde, von den Ägyptern borgen sollten: 'Und ihr sollt … die Ägypter berauben' (2. Mose 3:21, 22). Unmittelbar nach der neunten Plage sprach Jehova zu Mose und sagte: 'Rede doch zu den Ohren des Volkes, dass sie ein jeder von seinen Nachbarn und eine jede von ihrer Nachbarin silberne Geräte und goldene Geräte fordern. Und Jehova gab dem Volke Gnade in den Augen der Ägypter. … Jene Artikel wurden nicht von dem Ägyptern geborgt, um sich lediglich damit zu schmücken, sondern um von den Israeliten im Dienste des Herrn verwendet zu werden. Das bedeutet anscheinend, dass Jehovas Zeugen jetzt berechtigt und befugt sind, um die Benutzung irgendwelcher und aller Mittel, die die Machthaber der Welt jetzt kontrollieren, nachzusuchen und sie zur Förderung des Zeugniswerkes des Königreiches zu gebrauchen.

Das bedeutet, dass sie des Feindes eigene Mittel oder Werkzeuge gegen ihn verwenden sollen, wie die Radiosendungen, die Einrichtungen der Gerichte, Petitionen und Proteste an die gesetzgebenden Körperschaften, welches Recht durch die Staatsverfassung ihres eigenen Landes verbürgt wird, ferner alle andern Mittel, wodurch das Volk auf die Botschaft von Jehovas Königreich aufmerksam gemacht werden kann. Damit bitten sie nicht etwa Satans Organisation um Erlaubnis für ihre Tätigkeit, sondern überbringen der Satansorganisation die Ankündigung und verlangen, dass diese weltliche Organisation aufhören soll, sich der Ausführung der Vorsätze Gottes in den Weg zu stellen. Das Borgen von den Ägyptern stellt wohl auch dar, wie Jehovas Zeugen Geldbeiträge für die Literatur entgegennehmen und es darauf zur Herstellung und Veröffentlichung weiterer Literatur benützen. So wendet das Volk des Herrn einige Dinge der Gesellschaft des Teufels dem Werke und Dienst des Herrn zu."

Analog ist diese These auch in dem 1934 erschienenen Rutherford-Buch "Jehova", S. 98f. enthalten.

1934er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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